Kartoffelgeschichte und -Geschichten

57. Wer stellte "elegische Betrachtungen vor der leeren Kartoffelkiste" an?

Mit Witz und Ironie schilderte Walter H e n k e l s (1906-95) in seinen Reportagen die Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg, als Westdeutschland in drei Zonen unterteilt war.
Er lässt die Ängste und Hoffnungen "Trizonesiens" noch einmal lebendig werden, so auch in seinen "elegischen Betrachtungen vor einer leeren Kartoffelkiste" (s. Frage 58).

In dem Hungerjahr 1947 steht jeder vor der bangen Frage:
"Wie werden wir Kartoffeln kriegen? Wenn wir keine kriegen, will meine Frau Selbstmord begehen",
sagt ein Arzt, darauf vertrauend, dass der Bauer, dem er mal das Leben gerettet hat, ihm welche liefert. Eine Kriegerwitwe mit einem siebenjährigen Jungen soll nur einen Zentner bekommen und nicht zwei.

Die Frau, die sonst nicht so leicht resigniert, braucht in ihrer "Kartoffel-Ratlosigkeit" Trost.
"Und dann ist da noch eine Frau mit Grübchen auf den Backen, der immer beide Fahrradschläuche platzen, wenn sie über Land fährt mit den Oberhemden und den Hosen ihres Mannes. Im vorigen Jahr hat sie den Kartoffelhändler mit Zigaretten bestochen und doch keine bekommen, und sie hat manche Kartoffeltränen vergossen, weil ja auch ihr zweites Kleines unterwegs war. Nun frisst es an ihrem Gemüt. Werden wir im Winter wieder ohne Kartoffeln sitzen?"

Und was sagt Frau Henkels zu dieser Kartoffelmisere?
"Sie will sich nun endgültig scheiden lassen, wenn wir keine Kartoffeln bekommen. Sie sagt, ich hätte zu nichts Talent, würde niemals ein Kaufmann. Dumme Zeitungsgeschichten könne ich schreiben, in denen ich andere Leute lächerlich mache, und eine leere Kartoffelkiste rege mich nicht auf. Schwungvolle Elogen über Bratkartoffeln könne ich schreiben und hämische Sprüche klopfen, o ja das könne ich, aber wem bleibe alles am Halse hängen?
Wir standen währenddessen vor unserer schönen, guten, exakten aber leeren Kartoffelkiste, meine Frau und ich. Das heilige Donnerwetter rauschte mit Macht, aber voller Heimtücke und ohne Interpunktion dahin.
'Gell', sagte sie dann, und zwei Tränen standen ihr in den Augen, und sie gab klein bei, 'morgen versuchst du's noch mal! Du nimmst den Paletot mit und deine Kommißstiefel. Vielleicht wirst du doch noch Kartoffeln kriegen. Du kannst im Winter ruhig mal barfuß laufen'.
"

Nicht besser erging es Erwin S t r i t t m a t t e r (1912-94), der im Stil des "realistischen Sozialismus" in seiner Erzählung, "Das Jahr der kleinen Kartoffeln", schreibt:
"Oh, was haben wir [1947] bei der Kartoffelabgabe geächzt. Kaum Kartoffeln im Keller. Die Kartoffelkeller leer. Wir schlichen kartoffelhungrig um die Saatmieten. Im Frühjahr, als wir sie öffneten, ging's einfach nicht mehr. Wehe, wer seinen Appetit nicht an der Leine führte! Der fraß Löcher in den Saatbestand.- Es war schon eine Qual: mit Kartoffeln hantieren und Kohlrüben essen. Ich gesteh' es. Auch Herta und ich wurden eines Sonntags schwach. Aber nur diesen einen Sonntag."

Für den Fall, daß die vom Munde abgesparten Pflanzknollen nicht ausreichen sollten, stellte der Vor-sitzende der "Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe" die Saatkartoffelhilfe der "sozialistischen Bruderländer" in Aussicht.



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