Kartoffelgeschichte und -Geschichten

17. War der vermehrte Kartoffelanbau Ursache oder Folge von Bevölkerungswachstum und Industrialisierung?

Zwischen 1750 und 1840 nahm die deutsche Bevölkerung von rd. 20 auf 30 Millionen zu. Die von dem englischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834) vorhergesagten Hungersnöte als Folge der Überbevölkerung in Europa traten jedoch trotz allen Massenelends nicht in der erwarteten Schärfe ein. Offenbar war mittlerweile ein Weg gefunden worden, um im Unterschied zu den vorangegangenen Jahrhunderten eine rasch wachsende Bevölkerung zu ernähren.

Der Weg lag in der Überwindung des jahrhundertealten Systems der Dreifelderwirtschaft, bei der ein Drittel der Fläche brach (unbestellt) blieb und der Auflösung des als Weide genutzten Gemeindelandes (Allmende). Durch "Besommerung" der Brache mit Klee, Hackfrüchten (Zuckerrübe, Kartoffel) und Öl- und Faserpflanzen (Raps, Hanf, Lein) erfolgte eine Intensivierung auch der tierischen Produktion. Damit diese neue Produktionsstruktur, die schon seit dem 16. Jahrhundert in England betrieben wurde, auch wirksam werden konnte, bedurfte es einer Agrarreform. Daher wurde mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Grundherr und leibeigenem Bauern grundlegend geändert. Der Bauer erhielt das Land als Eigentum, musste aber den ehemaligen Grundherrn durch Landabgabe oder Geldzahlungen für die an die Fläche gebundenen Lasten und Dienste entschädigen. Diese in Preußen als Stein-Hardenberg'sche Reform bezeichnete Grunddienst-Ablösung, später auch "Bauernbefreiung" genannt, zog sich über Jahrzehnte hin und war dem Erhalt von bäuerlichem Grund und Boden nicht immer förderlich. Nach Aufhebung der Anbaubeschränkungen durch die Dreifelderwirtschaft trug der noch relativ neue und im Vergleich zum Getreide sehr viel ertragreichere Kartoffelanbau, für den auch bislang wertlose Sand- und Moorböden genutzt werden konnten, ganz wesentlich zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung bei. Eng verbunden mit dem Kartoffelanbau war die Intensivierung der Schweinehaltung (s. Frage 46). Mit der Auflösung der Allmende und der alten Waldweiderechte sowie dem Wegfall der Brache war die übliche Weidehaltung der Tiere stark eingeschränkt; doch konnte dies durch Kartoffelmast der Schweine und Kleefütterung des Rindviehs im Stall mehr als ausgeglichen werden. Gerade kleinbäuerliche Betriebe hatten damit die Möglichkeit, durch Eigenleistung ihre Nahrungs- und Einkommensgrundlage entscheidend zu verbessern.

Dank der neuen Anbau- und Bewirtschaftungsmethoden nahm die Produktivität der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zwischen 1800 und 1844 um zwei Drittel zu. Die Landwirtschaft konnte also nicht nur die wachsende Bevölkerung ernähren, und darüber hinaus in steigendem Umfang Getreide exportieren, sondern auch Arbeitskräfte für die beginnende Industrialisierung freisetzen. Ohne einen verstärkten Kartoffelanbau wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen.

Bis zur Ablösung des gutsherrlichen Zehnten war es erforderlich, dessen Wert genau zu ermitteln. Für beide Parteien wurde der Durchschnittsertrag amtlich festgestellt. Man legte dabei einen Zeitraum von 18 Jahren zugrunde. Von 1818 bis 1836 lagen die jährlichen Erträge verschiedener Feldfrüchte im Amt Hehlen bei Hameln an der Weser bei folgenden Durchschnittswerten (umgerechnet auf Doppelzentner je Hektar):

Roggen: 7,9 Weizen: 6,6 Gerste: 10,1
Hafer: 6,0 Erbsen: 6,0 Linsen: 5,5
Kartoffeln: 85,0 Kleeheu: 40,0 Flachs: 76 Bunde

Im nächsten 18-Jahreszeitraum stiegen die Erträge um durchschnittlich 25 % an, was auf die Unabhängigkeit von der Gutswirtschaft, auf die Flurzusammenlegung von 1847, die Aufhebung des Brachebeweidung (mehr Kartoffeln) und der Einführung der Stallfütterung zurückzuführen war.

Im darauffolgenden Zeitabschnitt bis 1872 stiegen die Erträge um weitere 20 % an, weil durch Einführung besserer Ackergeräte der Boden tiefer bearbeitet werden konnte. Bis zur Jahrhundertwende konnte man fast überall in Deutschland eine Verdopplung der Erträge gegenüber der Zeit vor der Grunddienst-Ablösung feststellen. Hierzu trug im wesentlichen die Mineraldüngung mit Thomasphosphat, Kalisalzen und Chilesalpeter bei.

Nach Umstellung der Eßgewohnheiten von Getreide auf Kartoffeln (s. Frage 14) waren die Mühlen nicht mehr ausgelastet. Im frühen 19. Jahrhundert suchte man daher nach neuen Nutzungsmöglichkeiten vor allem für die Wassermühlen, die man in der Herstellung von Papier, Textilien (Spinnen und Weben von Baumwolle*, Walken von Filz), Holz- und Metallbearbeitung, Tabakverarbeitung* und später auch in der Erzeugung von Elektrizität fand. Somit setzte in Europa mit dem Anbau der Kartoffel über die freiwerdende Mühlenkapazität die Industrialisierung ein.


*) Langfaser-Baumwolle (Gossypium hirsutum) und Tabak (Nicotiana tabacum) sind wie die Kar-toffel Kulturpflanzen, die von den altamerikanischen Völkern zuerst genutzt wurden.



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