Kartoffelgeschichte und -Geschichten

16. War die große Hungersnot von 1845/46 in Irland eine Folge des übermäßigen Kartoffelanbaus?

Die Hungerkatastrophe von 1845/46 war die schlimmste, die Irland je erlebte; zwar hatte es in den vorausgegangenen 100 Jahren nicht weniger als 27 Hungersnöte gegeben, mit gesteigerter Häufigkeit im vorausgegangenen Jahrzehnt, doch waren diese lokal begrenzt gewesen. Zur Katastrophe von 1845 kam es nicht allein deswegen, weil auf der ganzen Insel die Kartoffelernte durch die damals noch nicht als Pilzkrankheit erkannte Kraut- und Knollenfäule ausgefallen war, vielmehr gab es vom Herbst dieses Jahres an zum ersten Mal in ganz Europa wegen der feuchtkühlen Witterung keine Kartoffeln mehr zu kaufen, und noch zwei weitere Jahre blieb der Markt wie leergefegt. Durch den Mangel an Kartoffeln verdreifachten sich die Weizenpreise auf umgerechnet 10.500 DM/t. Im Vergleich dazu kostet heute in Europa eine Tonne Weizen 220 DM. Da die irische Bevölkerung bettelarm war, konnten sich nur noch die reichen Engländer mit dem knappen Weizen eindecken. Schätzungsweise starben in Irland eine Million Männer, Frauen und Kinder an Hunger und Krankheiten, die die Not begleiteten. Bis zu 1,5 Millionen Iren verließen das Land und waren Wegbereiter der Auswanderungswelle nach Nordamerika, die noch das ganze restliche Jahrhundert anhalten sollte; bis 1914 hatten 5,5 Millionen Einwohner Irland verlassen.

Als Oliver Cromwell 1649 die Stammesorganisation der Iren blutig zerschlug, als Strafe dafür, dass sie sich auf der Seite von König Charles I. am englischen Bürgerkrieg beteiligt hatten, mussten die Iren "in die Hölle oder nach Connaught" ausweichen, der am wenigsten fruchtbaren der vier irischen Provinzen, wo es nur Moor und Felsen gab. Durch diese gewaltsame Umsiedlung, die Vernichtung ihrer Rinder- und Schafherden, ihrem einzigen Reichtum, durch das Massaker bei Drogheda und durch Deportation nach Amerika und in die Karibik ging die Bevölkerung der Insel um die Hälfte auf 1,5 Millionen zurück. Die Überlebenden im Moor von Connaught hatten kein Vieh, keine Ackergeräte, kein Saatgut und kein Land. Ohne Kartoffeln hätten sie nicht überleben können. Denn um Kartoffeln anzubauen und zu ernten, brauchte man keine Geräte; das Pflanzen und Ernten konnte im Gegensatz zu Getreide mit den Händen erfolgen. Dabei bedienten sich die Iren in Connaught des Hügelbeetbaus. Ein Streifen im nassen Moor, gut einen halben Meter breit, wurde mit Seetang als Dünger und getrocknetem Torf bedeckt. Dann wurde auf jeder Seite ein Graben ausgehoben und der Aushub oben auf den Seetang gepackt. So war für gute Entwässerung gesorgt und die Reihen bereits "angehäufelt", bevor die Kartoffeln gelegt waren. Mit einem Pflanzstock wurden die Knollen gesteckt, oder sie wurden vor dem Ausheben der Gräben bereits oben aufgelegt und mit dem Aushub bedeckt. So ein Streifen von 450 bis 750 m Länge lieferte genug Kartoffeln, um eine Familie zu ernähren, wenn zusätzlich noch Milch und Blut von einer Kuh und ein Schwein zur Verfügung standen. In einem solchen Hügelbeet waren die Kartoffeln weitgehend frostsicher, gut ent- und bewässert und ausreichend gedüngt und auch sicher vor Soldaten und Mordbrennern, die zwar reife Getreidefelder anzünden konnten, denen das Kartoffelklauben aber zu mühsam war. Der Kartoffelacker erwies sich als "kriegsresistent"! Waren die Kartoffeln reif, blieben sie im Beet und wurden bei Bedarf herausgeholt. So ersparte man sich das Anlegen einer Miete. Derart kann man allerdings nur in wintermilden Klimaten verfahren. Die Engländer gaben diesem Anbauverfahren den Namen "lazy bed" ("faules Beet"), weil nicht der ganze Acker bearbeitet wurde. Sie meinten, dies sei die richtige Methode für arbeitsscheues Gesindel, wie es die Iren wären. Von den Zeiten Cromwells bis 1840 nahm die irische Bevölkerung wegen der sicheren und technisch einfach anzubauenden Kartoffel von 1,5 auf 9 Millionen zu; das ist eine Versechsfachung in 80 Jahren. Ohne Kartoffeln hätte alles Land der Insel höchstens fünf Millionen Menschen mit Brot ernähren können. Die irische Hungersnot und die englische Freihandelspolitik waren in gegenseitiger Wechselwirkung eng miteinander verknüpft. Weil sich das knappe Gut Getreide kaufkräftige Märkte suchte, importierte England Weizen aus den fruchtbaren irischen Grafschaften Leinster und Limerick, selbst als in Irland Hunger herrschte. So blieb der irischen Bevölkerung nur die Kartoffel-Monokultur, um sich ausreichend zu ernähren. Monokulturen sind aber nur solange stabil, wie keine Krankheiten und Schädlinge auftreten (s. Kap. 2, Frage 16).



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