Kartoffelgeschichte und -Geschichten

12. Warum dauerte es mehr als 200 Jahre, bis die Kartoffel allgemeines Nahrungsmittel wurde?

Der Einführung und Verbreitung standen folgende Schwierigkeiten entgegen:

  1. Die damals angebauten Kartoffeln führten wegen des höheren Solaningehalts in den Knollen zu einem unangenehmen Kratzen im Hals und Brennen im Magen. Hirsebrei und Roggenbrot, die Hauptnahrungsmittel im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, schmeckten einfach besser. Als im Hungerjahr 1771 in größerem Maße Kartoffeln gegessen werden mussten, klagten die in ihrer Nahrung gewiss nicht verwöhnten Rhönbewohner über Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Drücken und heftiges Brennen im Magen, schließlich Durchfall und Übelkeit (s. Kap. 3, Frage 15).
  2. Von den Kirchen wurde der Kartoffel nicht zu Unrecht eine aphrodisierende Wirkung zugesprochen ("... zur Stärkung der ehelichen Werke ..."), da sich eine bessere Energie- und Vitaminversorgung des Körpers durch den Genuss der Kartoffel sicher auch auf die sexuelle Aktivität der Menschen ausgewirkt hat (s. Frage 8 und Kapitel 7, Frage 38). Um die Gläubigen aber von solchem "sündigen Treiben" abzuhalten, predigten die Pfarrer nicht selten gegen die Kartoffel. In Schottland verbot die katholische Kirche ihren Anbau mit der Begründung, der "Erdapfel" sei nicht in der Bibel erwähnt und somit dem Apfel gleichzusetzen, dem die Schuld an der Vertreibung aus dem Paradies angelastet wurde. Die Altgläubigen (Raskolniki) der orthodoxen Kirche Russlands hielten das "dämonische, vielfruchtige, lüsterne Gewächs", das Zar Peter der Große (1682-1725) aus Holland mitbrachte, für "die Inkarnation des Bösen". Die Wissenschaft behauptete sogar, der Kartoffelgenuß könne zur Lepra-Erkrankung führen. Auch für die Pest hat man die Kartoffel verantwortlich gemacht, da das Aussehen der Knollen wohl an Pestbeulen erinnerte (s. Kap. 7, Frage 38). Aus dem Munde von Adeligen, Geistlichen und Bürgern, also Leuten von Stand, hörte man im 18. Jahrhundert nicht selten folgenden Spottvers auf die Kartoffel:
     
    "Ewig sei von mir verflucht,
    aus des Mastviehs dunklen Koben
    du verhasste Pöbelfrucht!
    dich an seinen Tisch erhoben.
    Dich gebar der Schoß der Erde
    Und nun essen Dorf und Stadt
    für den Schlund der Borstenherde.
    ohne Scham an dir sich satt.
    Doch der Menschen Sparsucht hat
    Pfui, o pfui!
    Ist das zu loben?"
     
  3. Die im 18. Jahrhundert angebauten Landsorten stammten oftmals von den spanischen Mustersendungen aus Peru ab (s. Frage 8 und Kap. 2, Frage 2) und waren in ihrem Wachstum entsprechend dem niedrigen Breitengrad ihres Herkunftsgebietes "Kurztagspflanzen". Die Tageslichtdauer beträgt dort weniger als 14 Stunden. Diese "Kurztagskartoffeln" mit der botanischen Bezeichnung Solanum tuberosum ssp. andigena bildeten im europäischen Sommer mit seinen langen Tagen oft meterlange Ausläufer, an denen erst zum Herbst hin bei zurückgehender Tageslänge, viel zu kleine, unregelmäßig geformte und beim Herauswachsen aus dem Boden grüne solaninhaltige Knollen mit tiefen Augen entstanden.
  4. In der damals üblichen Dreifelderwirtschaft (Sommergetreide - Wintergetreide - Brache) fand die Kartoffel keinen Platz, da die Brache beweidet wurde. Weil vom Getreide "Zehntabgaben" an die Kirche gezahlt werden mussten, bauten einige Bauern, um die Zehntpflicht zu umgehen, statt Haferauf dem Sommerfeld Kartoffeln an. Die Pfarrer prozessierten jedoch jahrzehntelang um die entgangenen Steuern. Die Bauern verpflichteten sich schließlich in einem gerichtlichen Vergleich, "die Übermaß an solchen neu eingeschlichenen Erdäpfeln in der ganzen Pfarr abzuschaffen". Es sollten nur noch "zwei bis drei ackerlange Beete" zehntfrei bleiben.
    Über den Kartoffelanbau im System der Dreifelderwirtschaft berichtet ein Bauer aus der Nähe von Hameln an der Weser: "Die Kartoffel gehörte damals [nach der Aufhebung der gutsherrlichen Weiderechte auf der Brache im Jahr 1847] nach Gerste und Hafer. Waren letztere vom Acker abgeerntet, wurden die Stücke im Herbst von Kühen, Gänsen und Schweinen abgeweidet. Im Frühjahr wurde das zu Kartoffeln bestimmte Stück nocheinmal mit Mist gedüngt und derselbe untergepflügt. Das Feld war damals noch flachbodig, etwa 13 cm tief. Die Furche legte sich gut. Auf diese wurde reihenweise querüber gepflanzt. 65 cm zwischen den Hörsten und die gleiche Weite in den Reihen [Anbau im Dreiecksverband]. Waren die Kartoffeln aufgegangen und bildeten kleine Büsche, wurden sie mehrfach geeggt. Daran anschließend folgte eine schwere Arbeit: das Loshacken der Kartoffeln. Das wurde mit schweren scharfen Hacken gemacht. Wegen des verqueckten Boden [Ackerquecke, ein Ungras mit unterirdischen Ausläufern] war das keine Kinderarbeit. Hackenschlagtief wurde durchgehauen. Kluten wurden mit der umgedrehten Hacke zerschlagen. Es wurde so derb gehackt, dass sich die jungen Hörste hoben. Später wurden die Hörste behäufelt. Mit der linken Hand wurde das Kraut zusammen gehalten, indem man mit der rechten Hand mittels der Hacke den Boden anzog und so weiter rechts um den Horst herum, bis aller Boden, der zu haben war, angehäufelt war. Man nannte solches das Herumtanzen. Wenn so ein Kartoffelacker nach schwerer und zeitraubender Arbeit fertig war, dann war es eine Freude anzusehen, wie die Hörste in das Kreuz gepflanzt standen. Nicht allein querüber in Reihen, sondern auch nach allen Richtungen hin. Die Ernte der Kartoffeln begann, nachdem der Flachs und anschließend der Roggen geerntet waren. Die Hörste wurden mit schweren Grepen [Grabgabeln] ausgehoben und die Knollen eingesammelt." Friedrich Gerling (1901)
    Ab 1875 wurde die Arbeit im Kartoffelacker durch Einsatz des "Vielfachgerätes" und des Häufelpflugs zunehmend erleichtert.
  5. Schließlich waren es Ernte- und Lagerprobleme, die einer raschen Verbreitung des Kartoffelanbaus entgegenstanden. Da die Kartoffel sowohl als Pflanze als auch als Knolle frostempfindlich ist, gab es häufig infolge von Spätfrösten im Mai geringe Ernten. War die Ernte gut, so reichte der Kartoffelkeller für eine frostfreie Lagerung nicht immer aus. Häusler, Kleinbauern und Handwerker hatten daher ihr Kartoffellager in einer Holztonne in der Schlafkammer. Bei Frost wurde die Tonne mit Kleidern behängt. Auch das notwendige Häufeln und Ausgraben der Kartoffel erforderte mehr Kraft und Ausdauer als Saat und Ernte von Getreide. Die Handarbeit machte die Kartoffelernte vor allem in einem feuchten kühlen Herbst zur Plackerei. Mit Spaten und langstieligen Hacken wurde der Kartoffeldamm von Männern aufgelockert; anschließend wurden die Knollen von Frauen in gebückter Haltung mit einer kurzstieligen Hacke herausgewühlt und auf den Knien rutschend in Körben gesammelt, die wiederum von Männern auf den bereitstehenden Ackerwagen geleert wurden. Nach einem Tag Kartoffelklauben waren die Hände ohne den Schutz von Gummihandschuhen, die es noch nicht gab, völlig zerschunden, die Haut war rissig, die Fingernägel abgerissen.


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