Die Kartoffel als Genussmittel und Heilpflanze

38. Wie wurde die Kartoffel in der europäischen Zauberkunde verwendet?

Im Mittelalter verschafften sich weite Bevölkerungskreise einen Rausch durch wildwachsende Nachtschattengewächse, weil Alkohol zu teuer war. Vor allem das Schwarze Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) galt für die ärmsten Teile des Volkes als kostenloses Rausch- und Genussmittel. Die zu einer "Hexensalbe" verarbeiteten Blätter und Samen des Bilsenkrautes führten nach Einreiben der Brust zu Halluzinationen vom Fliegenkönnen (Hexenflug), von Verwandlung in einen reißenden Wolf (Wer-wolf-Glaube), von festlichen Gelagen, Tanz und Erotik. All dies wurde im Rausch als Wirklichkeit, nicht als Halluzination empfunden. Einen zentralen Platz nahm in Hexenprozessen die Sexualität ein. Im Gegensatz zu der von der Kanzel gepredigten Moral, die lediglich in der Fortpflanzung den Sinn der Sexualität sah, wurde im Bilsenkraut-Rausch allein die Lust empfunden. Als im 17. Jahrhundert das Nachtschattengewächs Solanum tuberosum, die Kartoffel, mehr und mehr den Tisch der ein- fachen Menschen eroberte, die durch Missernten, Viehseuchen, Fehden der Grundherren und Kriegszüge in tiefem Elend lebten und buchstäblich verhungerten, versuchten Kirche und Wissenschaft, den Anbau der Kartoffel zu verbieten, weil man ähnliche Rauschzustände wie beim Bilsenkraut befürchtete (s. Kapitel 1, Frage 12). Weil durch Verzehr der grünen Beeren an Stelle der Knollen Vergiftungen auftraten, schrieb man dem Kartoffelverzehr krankmachende und sogar todbringende Eigenschaften zu. Von Kirchenmännern wurde behauptet, die Kartoffel sei aus dem "Speichel des Teufels" entstanden, und daher sei der Verzehr der Kartoffel nicht nur todbringend, sondern auch Sünde.

Der Kartoffelanbau war daher vielerorts verboten. Eine Übertretung des Anbauverbots konnte eine Anklage wegen Hexerei zur Folge haben. Aber auch aus einem anderen Grund blieben die Menschen gegenüber der Kartoffel misstrauisch. In der mittelalterlichen Heilkunde glaubte man, dass man Ähnliches mit Ähnlichem heilen könne. So nahm man z.B. roten Pflanzensaft zur Behandlung von Blutkrankheiten oder langlebige Pflanzen zur Lebensverlängerung. Es war daher nicht verwunderlich, dass die Menschen beim Anblick der mehr oder weniger verwachsenen Knollenform an die verkrüppelten Gliedmaßen Leprakranker oder die Erscheinungsformen der Beulenpest dachten, weswegen man bei Verzehr der Knollen glaubte, von diesen schlimmen Krankheiten befallen zu werden. Daher fand die Kartoffel Verwendung in der Zauber-Heilkunde: - Die Kartoffel diente, ähnlich wie das Bilsenkraut, als Heilmittel gegen Impotenz oder Frigidität, wenn sie durch bösen Zauber oder Hexerei "verursacht" wurden. Dazu aß man am Holzkohlenfeuer gegarte Kartoffeln mitsamt der Schale.

- Eine Kartoffel, durch die ein Rhizom der Quecke (Agropyron repens) gewachsen ist, soll gegen Bettnässen wirken, oder man gibt dem Bettnässer gebratene Queckenrhizome ein, die durch eine Kartoffelknolle gewachsen sind.

- Wuchs auf dem Feld eine Kartoffel mit weißen Fiederblättern (Chlorophylldefekt durch somatische Mutation), galt das als Zeichen, dass es in der Familie einen Todesfall geben wird. Gab es noch einige grüne Stellen an den Blättern, war nur die Verwandtschaft betroffen.

- Eine Kartoffel in der Hosentasche oder an einer Schnur um den Hals getragen, bis sie eingetrocknet war, sollte Rheuma heilen oder vorbeugen.

- Reibt man Warzen mit einer Kartoffelscheibe ein, so sollten diese verschwinden, wenn man die Kartoffel an einen Ort warf, wo weder Sonne noch Mond hinschien, oder man vergrub sie unter der Dachtraufe.

Heute trifft man nicht selten auf ähnliche, allerdings weniger drastische Empfehlungen, die als "Homöopathie" und "esoterische Medizin" (z.B. Bach-Blüten-Therapie) dem hilfesuchenden Patienten angeboten werden.



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