Kartoffel ist Kultur

Von der Kultur der kleinen, alltäglichen Vielfalt

Kindheitserlebnisse aus Westfalen
von  Hubertus Bernhard Beckmann

Noch vor nur einer Generation, also vor 30 Jahren war Kartoffel wichtigstes Lebensmittel in unserem Land. Lebensmittel kommt von Leben, und das heißt Essen, und Essen ist Kultur.
Und Kartoffel.

Ist Kartoffel etwa Kultur?

Klar: Essen hieß für mich damals
Kartoffeln!
Das Mittagmal eines jeden Tages:
Kartoffeln mit Gemüse und einem Stück Fleisch, oder aber am katholischen Freitag auch so oft die geliebten Stampfkartoffeln mit Spinat und Spiegelei.
... oder aber in Ausnahmen kam dann auch der heißgeliebte Kartoffelpfannekuchen, "den Aardappelpannenkoek" ... natürlich mit Appelkompott ... auf den Tisch.

Kartoffeln,
und das Mittags sieben Tage die Woche, und dann noch Abends vielleicht 3 bis 4 mal wöchentlich Bratkartoffeln aus den Resten des Mittags, ... und vielleicht auch einmal den „Aardappelpannenkoek“?!?
Reibeplätzchen klang uns damals ganz bieder nach Arbeit, und der war doch so lecker ... !

Die Kartoffelsoße verriet beim Mittagessen den Wochentag:
Montag bis Donnerstag mit brauner Soße - aus dem Fleisch oder klar braun aus dem „Arbeiterkotelett“ (panierter Speck),
Freitag mit klarer (fleischloser) Soße – Butter,
Samstag auch mal mit schwarz – brauner Soße aus dem Braten oder aus der Rollade,
... und am heiligen Sonntag endlich mit weißer Zwiebelsoße! Welch ein Genuss!!

Aber Kultur war nicht nur Essen!
Kultur braucht Raum!
Und die Kartoffel hatte ihren Raum: sie wurde im Keller eingelagert.
Jeder hatte irgendwo seinen Kartoffelkeller. Die Kartoffeln wurden im Herbst auf der Straße gekauft oder im eigenen Strebergarten geerntet, und standen im Winter dann im Keller. Damals standen die Lebensmittel „unten“ und in der Alltags-Werteskala noch ganz, ganz weit oben – und nicht nur im Supermarkt im Regal.
Und der Keller war für die zwei K’s:
Kohle und Kartoffeln!
Essen und Wärme!

Kultur ist Arbeit!
Das Kartoffelkäfersammeln im Sommer und die Kartoffelernte in den Kartoffelferien, den heutigen Herbstferien. Daran an schlossen sich dann ja die Fahrten in die Wohngebiete mit dem Straßenverkauf. Direktvermarktung ging damals noch anders!

Kartoffel ist Gender!
Da war zwar der Bauer als Eigentümer des Landes und als Regler des Anbaus. Aber die Kartoffeln habe ich in meiner Kindheit nur mit anderen Frauen zusammen aufgesammelt, die auch aus der Heimat des Bauern, aus Schlesien stammten.
Und diese Frauen bestimmten an diesen Erntetagen den Rhythmus des Hofes.
Ihren Wünschen folgte der Bauer.
... wenn Frau Beilschmidt die Stimme erhob, hörte der Bauer sehr genau zu!
Und die Frau des Hofes bereitete damals täglich ein Mal mit Kartoffeln. Beim "Kartoffel-Essen" gab sie dann zu allen wesentlichen Entscheidungen des Hofes ihr Einverständnis.

Kultur ist Politik,
und Kartoffel ist Politik!
Wie wäre die Industriegesellschaft ohne die Kartoffel geworden?
... vielleicht niemals?!
Was wäre Karl Marx ohne die Kartoffel geworden?
... vielleicht Philosoph oder Lehrer?!

Die Kartoffel hat unsere Welt verändert und nicht nur unsere Vorfahren gesättigt. So dürfen wir aus Anlass des Weltkartoffeljahres 2008 hoffen, dass sie dies eines Tages auch in Völkern vollbringen wird, in denen heute noch viele Menschen hungern.
... frei nach dem Motto:
sieben Tage hat die Woche, sieben Soßen die Kartoffel!

Ja,
Kartoffel war Vielfalt und Kartoffel war Kultur!
Und das wird sie hoffentlich auch wieder werden.
... zum Wohle der Menschheit!